Lies Leo Milgroms Geschichte
Leo Milgrom ist einer der Mitstifter von Intact Denmark – Die Vereins gegen Kinderbeschneidung -, und er ist heute
Ehrenmitglied. Mit seinem zurückhaltenden sachlichen Insistieren auf Respekt für die Opfer der Knabenbeschneidung,
ist Leo ein entscheidender Pfeiler für die Arbeit des Vereins, und seine ursprüngliche Chronik ist ein wichtiger Beitrag
zur Diskussion. Dieser macht die Problematik sehr deutlich. Es gibt nämlich keinen – auch nicht Bent Lexner – der ihm
oder anderen Opfern von Geschlechtsverstümmelung seine Vorhaut zurückgeben kann. Die Amputation der Vorhaut ist
ein permanenter Eingriff, der Konsequenzen für die Opfer den Rest ihres Lebens hat.
Kannst du mir meine Vorhaut zurückgeben?
An einem Tag im März 1980, am Nachmittag, fuhr ein Mann nach Vallensbæk südlich von Kopenhagen. Er fuhr zu
einem Haus in einem Reihenhausviertel, ging die Treppe hinauf in den ersten Stock, grüsste die Menschen, die sich im
Schlafzimmer befanden, schnitt mir die Vorhaut ab, und nahm sie mit sich. Jetzt, 32 Jahre später, bin ich erwachsen,
und schreibe Dir, Bent, weil du Vorsitzender bist und für die Beschneidung von männlichen Kindern in Dänemark
einstehst. Ich habe mich dafür entschieden mich an Dich in dieser offenen Form zu wenden, weil ich denke, dass
einige der über tausend Jungen, die Du im Laufe der Jahre beschnitten hast, dieser Brief und Deine Antworten darauf
ihnen vielleicht etwas nützt.
Bahnbrechender Artikel in einer jüdischen Zeitung über Beschneidung
Bevor ich dir persönlich Fragen stelle, ist eine Art Einführung notwendig. Grund dafür ist, dass gewisse Themen für
mache Menschen so beschaffen sind, dass sie keine Diskussion zulassen – also GAR keine. Eines dieser Themen ist eben
Beschneidung. Aber ich kann darauf keine Rücksicht nehmen, weil das schreiben dieses Textes mir schwer auf der
Seele liegt.
Der Gedanke der Beschneidung liegt tief eingelagert im kollektiv-jüdischen Gedankengang. Die Stärke der
Praktizierung kommt daher, dass Juden Abraham vor Augen haben, der seinerzeit durch einen unlösbaren Vertrag mit
Gott den Auftrag erhielt, alle männlichen Kinder als zukünftigen Beweis für das enge Verhältnis des Familienstammes
zu dessen Schöpfer zu beschneiden.
„ Und Gott sprach zu Abraham: So halte nun meinen Bund, du und deine Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht.
Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinen Nachkommen: Alles, was männlich ist
unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes
zwischen mir und euch. Jeden Knaben, wenn er acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen.
Desgleichen auch alles, was an Gesinde im Hause geboren oder was gekauft ist von irgendwelchen Fremden, die nicht
aus eurem Geschlecht sind. Beschnitten soll werden alles Gesinde, was dir im Hause geboren oder was gekauft ist.
Und so soll mein Bund an eurem Fleisch zu einem ewigen Bund werden. (1. Mosebog 17,9-14)
Alternativen zur jüdischen Kindesbeschneidung – Brit Milah
Es ist wichtig zu verstehen, dass Bescheidung tief im jüdischen Grundverständnis fast mit Menschsein gleichgesetzt
wird. Gewisse Interpretationen der Schrift sagen direkt, dass ein männliches Kind erst dann ein richtiger Mensch wird,
nachdem es beschnitten worden ist, weil Jungen als Ausgangspunkt unperfekt und mit einem unsteuerbaren sexuellen
Trieb geboren werden. Demzufolge sieht man die Beschneidung als eine Berichtigung an. Gott hat – unter Anwendung
von Operationsinstrumenten, eine buchstäbliche „Öffnung zu Gott“ angeordnet. In gewissen jüdischen Kreisen wird
das Ritual als so wichtig angesehen, dass man tote Männer mit Vorhaut beschneidet, bevor sie in die Erde gelegt
werden. Dies will ich für sich selbst sprechen lassen.
Ich möchte hiermit betonen, dass ich mit Juden oder jüdischen Traditionen als solcher keine Probleme habe; Ich bin
selbst in die jüdische Tradition hinein geboren worden. Ich habe jedoch etwas gegen Traditionen und Rituale, die
keinen aufbauenden Charakter haben – ob jüdisch oder nicht. Das Problem ist, dass gewisse jüdische Denkweisen eine
Art eingefrorenen, scheinbar unangreifbaren (das finden zumindest einige Juden selbst) Grundton besitzen, was
bedeutet, dass alleine das Fragenstellen das gleiche wäre, als hülfe man Drachen zum Auferstehen. Man berührt damit
nämlich Teile des jüdischen Fundaments. Darum kann es sehr schwer sein, mit Juden, die in der Praxis gezeigt haben,
dass sie Beschneidung für eine gute Idee halten, eine sachliche Debatte zu führen. Man hat gesehen, dass
Bezeichnungen wie z.B. „Antisemit“ als eine Art Argument benutzt wurden. Wie ich es tue, nämlich hier unverblümt
und „direkt an das Judentum gerichtet“ zu sprechen, bedeutet direkt, dass die jüdischen „Torhüter“ aufschreien: „Es
gibt nichts Schlechtes am Judentum – was bildest du dir ein!!!“. Das kann man natürlich buchstäblich nehmen und sich
abwenden. Aber es gibt Menschen wie z.B. mich, die mit einer solcher Behauptung nicht einig sind. Die Frage ist nun:
Können wir ein Gespräch führen, in dem Einwendungen gegen Beschneidung angehört werden, ohne dass man von
vornherein die Fragen oder den Fragesteller niedermacht? Ist es möglich gemeinsam zu untersuchen, ob es vielleicht
doch Aspekte am Judentum gibt, die nicht in Ordnung sind? Wenn man ein der Wahrheit verpflichteter,
nachforschender Mensch ist, kann daran ja nichts Schlechtes sein.
Beschneidung – meine Meinung, Mark Reiss, MD
Der Grossteil der Juden praktiziert sowieso schon eine Art Privatauslegung der jüdischen Schriften, wenn sie ihnen
überhaupt folgen. Diejnigen, die dies tun, praktizieren die Aspekte des Judentums, die sie relevant für ihr eigenes
Leben finden. Relativ wenige Juden folgen alle 613 Gebote, die im Alten Testament beschrieben sind, und das kann
ich gut verstehen. Wer sieht heutzutage z.B. den Sinn darin, dem Gebot aus dem 5 Buch Mose (22.11) zu folgen: „Du
sollst nicht anziehen ein Kleid, das aus Wolle und Leinen zugleich gemacht ist.“. Oder die Idee vom 3. Buch Mose
15:25-27, darüber, dass menstruierende Frauen unrein seien, andere besudeln, und jeglicher physischer Kontakt mit
ihnen umgehen werden soll? Oder vom 3. Buch Mose, 2:13: „ Alle deine Speisenopfer sollst du salzen mit Salz“.
Und warum sollte man auch diesen uralten und für das heutige Leben irrelevanten Regeln befolgen? Man sieht den
Juden, der alle 613 Gebote einhält, vor sich: Ich ziehe niemals etwas aus einer Mischung aus Leinen und Wolle an,
mache immer einen grossen Bogen um menstruierende Frauen, vorausgesetzt natürlich dass diese Anständigkeit genug
besitzen zu zeigen, dass sie unrein sind, und ich denke immer daran, meine Opfergaben zu salzen.
Ja, also, dann schönen Tag noch! Es ist ein Faktum, dass es im Judentum einige (nicht alle) Regeln gibt, die
offenkundig Nonsens sind. Dieses ist aber unter keinen Umständen eine Aufforderung, gute Lebensregeln und Respekt
vor Religionen nicht ernst zu nehmen, im Gegenteil. Lass uns das Judentum beim Wort nehmen. Hier ein Beispiel: im 1. Buch Mose, 10,16, steht: „Nur an den Orten dieser Völker (Hinweis auf die Canaaiter), die dein Gott dir als Erbe gibt, sollst du nichts am Leben lassen, was atmet.“ Oder einfacher gesagt: “Töte alle, die dort wohnen“. Gleichzeitig
steht dort im sechsten der 10 Gebote: „Du sollst nicht töten“. Hier ist der Widerspruch so gross, dass selbst die
Gelehrtesten ernsthaft Probleme damit haben, ihn wegzureden, ohne als vernebelte Hirne, die das Kind nicht beim
Namen nennen wollen, dazustehen. Leider gibt es Menschen, die so sind. Gewisse Juden verteidigen selbst bis zum
allerletzten offenkundige Widersprüche, und werfen Leuten, die die Dogmen infrage stellen, alles erdenklich Mögliche
vor. Erklärungen finden sich in zehntausende Jahren alten Ritualen, die wieder und wieder wiederholt werden, und
nach und nach eine Art eingeschworenes kulturelles Rückenmark geworden ist, das von sich behauptet, die Essenz der
Religion – ja, des Lebens selbst – zu sein.
Myhten vs. Fakten: Beschneidung von Mädchen ist schlimmer als Beschneidung von Jungen
Aber Religion sollte eigentlich von Gott handeln, und davon, was wir lernen können, wenn wir ihn aufsuchen. Sie
sollte nicht davon handeln, rätselhafte Bräuche, Rituale, Redensarten und Traditionen, die niemand wirklich versteht,
zu fördern. Dies wurde sehr gut geschildert im Film „A Serious Man“ der jüdischen Cohen-Brüder, der von einem
jüdischen Mann handelt, der bei Juden Antworten auf seine Lebensfragen sucht, diese Antworten aber dort nicht
bekommt. Aber lass mich diese Fragen trotzdem stellen. Lass mich dich fragen, Bent, weil du das Oberhaupt der
jüdischen Gesellschaft in Dänemark bist. Was soll ich tun, wenn ich meine Vorhaut zurück haben will? Ich habe mich
niemals ohne meinen Willen einen fremden Mann im Schritt berühren lassen. Ich würde UM NICHTS IN DER WELT
jemandem erlauben, etwas von meinem Penis abzuschneiden. Und was würdest du meinen Eltern sagen, die sich
darum überhaupt keine Gedanken machten, dass sie ja sagten zu einem genitalverstümmelnden, operativen Eingriff
ohne medizinische Indikation (und ohne Betäubung) an ihrem eigenen Sohn. „So war das damals“, ist ihre Antwort. Als
Oberrabbiner in Dänemark bist du ja der Fahnenträger der Beibehaltung dieser Praxis, ja – du schnippelst selbst an
den Pimmelchen der kleinen Jungen herum.
Gewisse Auslegungen der Bedeutung der Beschneidung gehen davon aus, dass der Vater durch die Beschneidung seines
eigenen Sohnes (das wichtigste das man hat), vor der Verwandtschaft beweist, dass er diesen Glauben hat. Mit
anderen Worten: Man schneidet etwas von seinem Sohn ab um dazuzugehören. Es ist deutlich, dass dies den
alttestamentarischen Gedanken vom Opferlamm als Unterton hat: Ganz tief in den Wurzeln des Judentums, in den
Geschichten, die dessen Essenz, die basale Stimmung, den Grundton ausmachen, soll man willens sein, ganz konkret
seinen eigenen Sohn zu opfern, wenn Gott es befiehlt. In „Die Opferung des Isaak“ (1603) hat Caravaggio die Situation
geschildert, aus der diese Stimmung entspringt. In dem Gemälde greift ein Engel ein, kurz bevor Abraham (auf Gottes
Anweisung) es schafft, seinem Sohn Isaak den Hals durchzuschneiden – und Abraham beweist durch seine
Entschlossenheit die absolute Treue zu Gott. Aber hier gibt es ein zentrales Detail, das man oft vergisst: Gott stoppt
die Opferung! Praktisch wird das Geschehnis (Mythos oder nicht) als eines der mächtigsten Wegweiser unter den
damals praktizierten Kinderopferungen gesehen. Später hat man mit dem Opferungsgedanken als Grundton, nicht das
ganze Kind geopfert, sondern Teile von ihm – z.B. dessen Vorhaut. Anstatt Anführer zu sein bei der Opferung von
Vorhaut, Bent, solltest du vielleicht besser auf die Engel hören.
Die Sache ist die, dass man wenn man kann, will und wenn man es wagt auf das eindeutige zu hören, dass es eben
selbstverständlicherweise nicht so ist, dass man an seinem neugeborenen Kind herumschneiden muss, um Gottes Gunst
zu gewinnen, dann taucht eine für Juden grauenhafte Frage aus dem Nebel auf: Sollte das etwa heissen, dass da
etwas nicht stimmt mit dem Judentum? Die Antwort ist: Ja. Selbstverständlich ist das verkehrt, wenn man eine Praxis
beibehält, die davon ausgeht, dass man Teile von kleinen Kindern abschneidet. Denk dir, wenn unsere Nachbarn, aus
religiösen Gründen, es zur Gewohnheit hätten, Ohrläppchen, das letzte Glied des kleinen Fingers oder die Brustwarzen
von ihren Babys abzuschneiden. Einfach schnipp – und weg damit! Das würden wir ja niemals zulassen. Aber wir
akzeptieren also etwas, was noch schlimmer ist: das Abschneiden von Teilen von den privaten und intimen
Geschlechtsteilen von Kindern. Konsequenzen gibt es viele und die sind verzweigt, aber sie sind schwer auszumachen,
bis einem die Grausamkeit langsam aufgeht. Die Vorhaut ist nämlich Gewebe, das eine grosse Menge Rezeptoren
enthält. Es gibt mehrere Untersuchungen, die beweisen, dass Säuglinge enorm sensitiv sind, dass sie Schmerz fühlen,
und die Forschung wird stetig erweitert mit Wissen darüber, wie wichtig die erste Zeit für die Entwicklung des Kindes
ist.
Tätowierung oder Vorhautamputation, welcher Übergriff an unmündigen Kindern ist schlimmer?
Berichte von Beschneidungen besagen, dass manche Kinder auf einen Eingriff automatisch mit Schock reagieren, und
deshalb nicht einmal imstande sind, Geräusche zu machen. Dieses wird von einigen dahingehend gedeutet, dass die
Verstümmelung dem Kind keine Schmerzen verursacht – in Wirklichkeit geschieht das Gegenteil. Jüdische Mütter und
Väter, die bereut haben, berichten, wie die besondere Intimität und der bis dahin unverbrüchliche Kontakt zwischen
Kind und Eltern zerrissen wird auf noch gewaltsamere Weise, als die Vorhaut von der Eichel heruntergerissen wird,
bevor man sie abschneidet. Das Kind verliert das wichtigste im Verhältnis zu den Eltern: Das Vertrauen darin, dass
Vater und Mutter immer das Beste für es wollen und es immer verteidigen werden, auch gegen eine religiöse Praxis.
Der persönliche, sexuelle Kontakt und der Austausch zwischen beschnittenen Männern und deren Partner/innen ist
gebrandmarkt genau in diesem Punkt, wo man sich (rein physisch) begegnet. Die Gewichtigkeit des Familienstammes
steht direkt dazwischen: Du gehörst nicht dir selbst sondern in erster Linie der Familie; eine Atmosphäre, die, wenn
sie den Beschnittenen (und denen mit denen sie sich umgeben) deutlich wird, die Möglichkeit der Person untergräbt,
als derjenige dazustehen, der man in Wirklichkeit ist: Ein souveräner und einzigartiger Mensch, der in der Welt
willkommen ist, ohne vorher erst einen Stempel aufgedrückt zu bekommen. Stattdessen wird er ein Glied in einer
Kette, ein Mitmacher, der ebenfalls an Kindern herumschneidet.
Damals im Schlafzimmer meiner Eltern waren die zentralsten Personen mein Vater, meine Mutter, ich selbst und der
Mann, der meine Vorhaut als Pfand nahm. Meine Eltern sahen fast passiv zu, als ein Teil von mir abgeschnitten wurde
– sie taten nichts. Meine Mutter hat ihr Weinen unter der Situation beschrieben, und mein Vater hat erzählt, wie ihm
schlecht und schwindelig wurde. Meine Frage ist somit: Was sagt wohl der kleine Junge dazu, dass ich ihm dies antue?
Kommen Euch solche Überlegungen überhaupt nicht in den Sinn? Aus dem „Innersten“ des Judentums ist die Antwort
einfach: Beschneidung als Brauch ist eine grosse, fest eingefahrene jahrtausendealte Maschinerie. Und es war genau
diese, die zugegen war im Schlafzimmer meiner Eltern, an jenem Tag im März 1980, wo ich unfreiwillig meine Vorhaut
verlor. Aber Maschinen fahren nicht von alleine, es gibt welche, die sie programmieren, andere, die sie instandhalten.
Ein kleines Stück dieser Programmierung ist dieser Teil eines Gebets, das gesprochen werden kann nach der
Beschneidung eines Kindes:
„Und es wird gesagt: Ich aber ging vor dir vorüber und sah dich in deinem Blut liegen und sprach zu dir: Du sollst leben
durch dein Blut. Und es ist gesagt: Er erinnere sich an seinen Pakt für ewig, die Worte, die ER befohlen hat, für
Tausend Generationen“.
Zurück bleibt: Mein Vater, der fast ohnmächtig wird, meine Mutter, die weint, ich selber, der kleine schutzlose Junge,
der Mann – und du, Bent, der heute noch das Messer schwingt. Ich erwarte gespannt deine Antwort.
Mit den allerbesten hoffnungsvollen Grüssen…